Weidenstetter plante seinen ersten Angriff über mehrere Wochen. Zunächst musste er Irene eine digitale Identität verschaffen. Unauffällig zunächst, aber glaubhaft und so, dass sie später plausibel aussah. Den Anfang machte er mit einem Forum für Katzenfreunde. Die Mitgliederzahl war hoch, auf eine einzelne Neuanmeldung würde man dort nicht besonders kritisch schauen. Jeder, der Irene kannte, wusste von ihrer Liebe zu den Stubentigern. Niemand würde vermuten, dass es nicht seine Exfrau war, die dort unter dem Namen IreneW auftauchte. Viele Forumsmitglieder hatten Fotos von sich hochgeladen, so konnte es nicht auffallen, wenn er das Profil mit Irenes Foto ergänzte. Er nahm eins, auf dem sie zu erkennen war, aber nicht besonders gut aussah. Das Foto war auf einer Urlaubsreise nach einer Nacht auf der Autobahn entstanden. Irene starrte den Betrachter mit glasigen Augen und einem seltsamen, leicht aggressiven Gesichtsausdruck entgegen. Das Foto passte perfekt. Kategorie: Befremdlich, aber nicht so schlimm, dass man sofort davon ausging, sie habe es niemals selbst eingestellt. Einen Abend lang saß Wolfgang in seinem Keller und stöberte in dem Forum herum. Anscheinend wurde dort nur ernstgenommen, wer mindestens einige Hundert Beiträge geschrieben hatte und schon lange Mitglied war. Sein Eintrittsdatum vermochte Weidenstetter nicht zu manipulieren, aber er begann damit, sich mit eigenen Beiträgen einzubringen. Es waren kurze Kommentare zu irgendwelchen Unterhaltungen, Smileys mit erhobenem Daumen und dem Satz „wie süüüüß“, wenn jemand die neusten Fotos von seinen Lieblingen hochgeladen hatte. Er hatte so in wenigen Tagen die ersten hundert Beiträge geschafft.
Einen Monat lang trieb Weidenstetter dieses harmlose Spiel, erst dann ging er zur nächsten Stufe über. Er hatte noch ein Foto von Jimmy, Irenes geliebtem Kater. Weidenstetter eröffnete eine eigene Diskussion unter dem Titel „Mein großer Verlust“ und beschrieb darin, wie Jimmy vor seinen - also Irenes - Augen von einem Lastwagen angefahren und drei Meter weit in den Straßengraben geschleudert worden war. Er schrieb, wie Irene beim Anblick des blutenden, zerschmetterten, aber noch lebenden Tieres fast zusammenbrach. Wie sie versuchte, Jimmy zu einem Tierarzt zu bringen, wobei sie dem Tier mit jeder Bewegung unermessliche Schmerzen zuzufügen schien. Die Verletzungen waren so schrecklich, dass der Tod unausweichlich sein musste. Wie sie schließlich weinend neben ihrem Liebling im Straßengraben saß und zusah, wie er zuckend und schreiend verendete. Die ersten Kommentare kamen schon nach wenigen Minuten. Mitleid, Mitgefühl, schockiertes Bedauern. Aber auch einige, die zwar Verständnis für Irenes Trauer zeigten, aber doch fanden, sie hätte es nicht so dramatisch im Forum darstellen sollen. Andere verwiesen darauf, dass auch Kinder in diesem Form waren, die verwirrt und verängstigt reagieren könnten. Andere widersprachen dem Einwand und behaupteten, das Forum sei doch dazu da, dass Irene ihren Schmerz teilen könne, wenn sie sonst niemanden dafür habe. Drei Stunden später war die Diskussion schon zwanzig Einträge lang und als besonders aktiver Bereich gekennzeichnet. Weidenstetter war extrem zufrieden. Das lief besser, als er sich vorgestellt hatte.