Am liebsten stand Wolfgang im Dunklen auf der Brücke. Alles anonym, die Autos kaum noch unterscheidbar, er selbst obendrüber so gut wie unsichtbar, die Enden der Brücke nur zu erahnen. Um diese Zeit kam hier nie mehr jemand vorbei, er war alleine, konnte die Autos vorbeirauschen hören und seinen Gedanken nachhängen.
Wenn er hier oben stand, kam ihm sein Leben so unabänderlich vor, wie die schnurgerade Bahn der vorbeifahrenden Autos. Die Fahrer hatten ein Ziel, irgendwo in weiter Ferne, und fuhren auf dem direkten Weg darauf zu. Vielleicht hielten sie für eine kurze Pause an einem Rasthof, tankten, kauften eine Cola oder Chips oder Zigaretten, um die lange Fahrt erträglicher zu machen. Und fuhren weiter, weiter, weiter. Keinem von ihnen kam die Idee, plötzlich abzufahren, das Navi auszuschalten und Schildern zu Orten zu folgen, von denen sie noch nie etwas gehört hatten. Sie rissen nicht plötzlich das Steuer herum, aus purer Verzweiflung über die endlose Gerade vor ihnen, durchbrachen nicht die Leitplanke und rasten durch den Gegenverkehr, überschlagend die finale Böschung hinab. Und er tat es auch nicht. Er nahm keinen Stein und ließ ihn von der Brücke auf ein vorbeifahrendes Auto fallen. Er nannte seinen Chef nicht Arschloch, schloss Maren nicht im Schlafzimmer ein, fuhr nicht mit hundert hupend durch den Ort, vergewaltigte nicht die junge Frau zwei Häuser weiter und brachte auch den Unternehmer nicht um, der oberhalb des Dorfes wohnte und nicht nur Geld hatte, sondern damit auch angab. Es war so leicht, bedurfte nur weniger Minuten brutaler Grenzüberschreitung, frei aller Hemmungen. Wenige Minuten, und er hätte eine ganze Reihe von Leben vor die Wand fahren können, einschließlich seines eigenen. Es war nicht viel nötig, um Polizeiautos mit heulenden Sirenen hinter sich und filmreife Straßensperren vor sich herbeizurufen. Wie meistens erschreckte dieser Gedanke Wolfgang. Er ging zurück zu seinem Auto und ließ dabei seine Hand über das kühle Metall des Brückengeländers gleiten.