Der kleine Wahnsinn begann mit einem Kantholz. Zwei Meter lang, fünfzehn mal fünfzehn Zentimeter im Querschnitt. Es lag auf dem Gehweg vor seinem Haus, und als Wolfgang nach Hause kam, balancierte er die zwei Meter über den Balken, ohne auch nur die Arme für sein Gleichgewicht ausbreiten zu müssen. Das Holz war die Hinterlassenschaft einer Baustelle, bei der in den letzten Tagen ein unerklärlich tiefes Loch in der Straße ausgehoben worden war. Oder ein Lastwagen mit Bauholz hatte Ladung verloren. Oder es lag eben dort, damit Wolfgang darüber balancieren konnte und nachzudenken begann, ob er das auch geschafft hätte, wenn sich darunter ein Abgrund befunden hätte. Eine Brücke ohne Geländer, fünfzehn Zentimeter breit. Wäre er darüber gelaufen?
Am nächsten Tag lag das Kantholz immer noch vor dem Haus. Wolfgang beschloss, dass er als Grundstückseigentümer so etwas wie die Verpflichtung zur Gefahrenbeseitigung hatte. Sollte jemand über das Hindernis stürzen und sich ernsthaft verletzen - haftete er dann nicht dafür? Bei nicht geräumtem Schnee war das doch auch so. Also schleppte Wolfgang den erstaunlich schweren und schwerfälligen Balken hinter sein Haus und legte ihn auf der Terrasse ab. Und balancierte noch einmal darüber.
Natürlich war es leicht, wenn das Holz flach auf dem Boden lag. Als Brücke würde es sich biegen, schwanken. Nur wenig, bei der Stärke, aber sicherlich spürbar. Wolfgang holte aus dem Schuppen zwei Leichtbausteine, die dort noch vom Vorbesitzer des Hauses lagerten. Lag der Balken darauf, schwebte er schon dreißig Zentimeter über dem Boden. Es war immer noch kein Problem, die zwei Meter ohne Absturz zu bewältigen. Aber das Gefühl der Unsicherheit nahm bereits zu. Wolfgang ging vorsichtiger und achtete genauer auf seine Schritte. Bei dreißig Zentimetern! Bei dreißig Metern dürfte es unmöglich sein, das andere Ende zu erreichen - aus reiner Vorsicht und Bedachtsamkeit würde man das Gleichgewicht verlieren und fallen!